Unser Service für Sie


 [ » Newsletter ]

[ » zum Kontakt-Formular ]

[ » Material bestellen ]

[ » Geschenke bestellen ]



Videos aus unseren Projekten finden Sie auf unserem Youtube-Kanal.
[ » Gebende Hände – Youtube-Kanal ]


Indien: 13 Cent für einen Schlafplatz

Meldung vom 02.02.2016

Das gibt es nur in Indien: Selbst für einen Platz unter der Brücke müssen Obdachlose zahlen. Obdachlos sein, sein Leben auf der Straße bestreiten und dafür auch noch Miete entrichten? Das ist die bittere Realität in der indischen Hauptstadt Neu Delhi. Das Miet-Geschäft rund um den „sicheren“ Schlafplatz läuft auf Hochtouren. Ein „Schlafverkäufer“ und seine „Kunden“ berichten.

„Raja Hindustani“ – ein beliebter Bollywood-Klassiker – flimmert über den kleinen Bildschirm. Die Geschichte des Films ist wenig anspruchsvoll: Eine junge Frau aus gutem Hause und ein armer Fahrer sind einander zugetan. Die Familie des reichen Mädchens will den Mann ermorden, er soll nichts von dem Geld der wohlhabenden Familie in seinen Besitz bringen können. Nach vielen Kämpfen und Gesangseinlagen schafft es das Paar: Die Liebe trägt den Sieg davon.

Eine Bollywood-Seifenblase, die wie gemacht zu sein scheint für die rund 50 Männer, die völlig hingegeben auf den Bildschirm schauen. Andere lassen sich von der Musik einnehmen, liegen am Rand und schlafen. Dicht an dicht, auf angeschmutzten Teppichen, unter Decken vergraben. Mohammed Ismail zittert dennoch, seine Augen sind blutunterlaufen und verschleimt, möglicherweise macht er gerade einen Entzug durch. Die Liebesgeschichte des 22-Jährigen hatte keinen guten Ausgang: Seine Mutter habe ihm die Hochzeit mit dem Mädchen, das er liebte, untersagt, berichtet er.

Dann hat Mohammed die Flucht ergriffen aus seinem kleinen Dorf im Nordosten Indiens. Zwei Jahre ist das her. Im Moloch Neu-Delhi ist er dann so ziemlich untergegangen. Ohne Papiere, ohne Ausbildung. Mohammed nimmt jeden Job an, den er kriegen kann – als Laufbursche, auf Baustellen – oder er packt bei Hochzeiten mit an. Zehn Rupien muss er mindestens erarbeiten, das sind umgerechnet 13 Cent, um hier schlafen zu dürfen oder Filme zu schauen. Und noch einmal 13 Cent, wenn er sich eine Decke sichern möchte: „Wenn ich müde bin, weil ich die Nacht durch gearbeitet habe, schlafe ich hier tagsüber. Es fühlt sich wie mein eigenes Zuhause an. Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Ich habe nur eine kleine Tasche mit Klamotten, das ist alles, was ich besitze, die schleppe ich immer mit mir herum.“

Die Umgebung, in der Mohammed hier mit bis zu 300 anderen Männern haust, ist das völlige Gegenteil zu der Kulisse aus den Bollywoodfilmen. Mohammeds Unterkunft in Neu-Delhi befindet sich zwar direkt am heiligen Fluss Yamuna. Aber der hat einen üblen Geruch wie eine Kloake. Toiletten gibt es hier nicht, der Fluss ist der Abort für die Anwohner. Der Schlafplatz der Männer ist unterhalb einer Eisenbahnbrücke verborgen, die doppelgeschossig ist. Oben rattern Züge über die Brücke, darunter bewegen sich Autos und TukTuks fort. Und ganz unten legen sich die Männer schlafen.

Bei Regen ist ihnen ein Dach über dem Kopf sicher, es sind die Stahlträger der Brücke. An den Seiten schirmen muffige Decken und Plastikplanen den Schlafplatz ab, die alles Licht fernhalten. Hühner bahnen sich einen Weg durch den Müll, der sich hier überall türmt. Um sich zu wärmen zünden die Männer ein Feuer an: Als Brennmaterial dient alles, was man hier so findet: Plastiktüten, Becher und anderer Restmüll.

Ein idealer Ort für Wohnungslose, hat sich Ranjit Srivastava gesagt. Vor zehn Jahren hat er diesen Ort hier ins Leben gerufen, er startete seine Geschäftsidee mit einem Fernseher und einem DVD-Player: „Ich bin früher oft ins Kino gegangen und habe die Bollywood-Filme geliebt. Hier leben Leute aus den verschiedensten Ecken Indiens, die nach Neu Delhi kommen, um zu arbeiten. Normalerweise haben sie nichts miteinander zu tun, aber unsere Filme verbinden sie miteinander.“

Ranjit Srivastava landete selbst vor 20 Jahren als Jugendlicher in der indischen Hauptstadt und musste lange auf der Straße klarkommen. „Viele Leute hier kommen vom richtigen Weg ab. Sie nehmen Drogen“, berichtet er. „Ich habe damals viele Menschen gesehen, die sich Spritzen gesetzt haben. Wenn du das ganze Elend siehst, weißt du, dass du so ein Zeug nie anrühren willst.“

Stattdessen kam Ranjit Srivastava die Idee zu einem Geschäftsmodell, das sich voll auszahlte. Der Platz unterhalb der Eisenbahnbrücke direkt am Fluss ist ein öffentlicher Platz, Miete muss Ranjit Srivastava dafür nicht entrichten. Das Geld, das er von den Wohnungslosen einstreicht, bevor sie die Höhlen unterhalb der Brücke aufsuchen dürfen, würde gerade so seine Kosten decken, behauptet er. Bezahlen muss er den Strom, die Fernseher, DVD-Player und die Filme. Vermutlich aber schlägt er ganz schön viel Profit aus der Vermietung von Wohnraum, der ihm gar nicht selber gehört. „Der Ort hier ist doch völlig nutzlos. Man kann ihn ja für nichts anderes benutzen. Es ist ein öffentlicher Ort und sind diese Menschen nicht auch Teil der Öffentlichkeit? Haben wir nicht alle ein Recht darauf, in diesem Land zu leben?“

Die Behörden lassen das durchgehen, vielleicht werden sie auch ein wenig bestochen. Die Bevölkerung von Neu-Delhi ist in den letzten 15 Jahren um mehr als die Hälfte gewachsen, 20 Millionen Menschen müssen heute in Indiens Hauptstadt unterkommen. Die Stadtverwaltung hat den Überblick verloren. Es gelingt ihr nicht mehr, für all die neuen Bewohner zu sorgen. Es fehlt an allem – an Wasserleitungen, an Sicherheit, an Gesundheitsvorsorge. So hat sich ein riesiger privater Sektor entwickelt, der den Bedürfnissen all dieser Menschen entgegenkommt – aber selbst die Armen müssen dafür entsprechend zahlen können.

Ranjit Srivastava selbst wiederum hat Männer angeheuert, die darüber wachen, dass seine Schläfer, wie er sie nennt, zur Ruhe kommen: „Die Leute streiten hier um alles, vor allem, wenn sie betrunken sind. Sie bedrohen sich gegenseitig mit Rasierklingen. Die streiten sogar um fünf Cent. Fünf Cent ist schon viel in ihrem Leben, davon können sie eine Tasse Tee kaufen oder eine Scheibe Brot.“

Die Polizei registriert mindestens 3.000 Menschen im Jahr, die anonym auf den Straßen der Stadt gestorben sind. Deshalb hat der Oberste Gerichtshof schon vor fünf Jahren angeordnet, dass die Großstädte in Indien alles unternehmen müssen, damit 0,1 Prozent ihrer Einwohner in öffentlichen Schutzzelten Obdach finden. Diesen Winter stehen zwar vereinzelt solche Zelte für rund 20.000 Menschen in Neu-Delhi zur Verfügung. Doch das ist lange nicht ausreichend. Laut Schätzungen fristen hier mehr als 100.000 Leute ein Dasein auf der Straße. Im Winter bewegen sich die Temperaturen knapp um den Gefrierpunkt. Wer eine Decke sein eigen nennt, versucht, sie auf Bäumen zu verstecken, sonst wird sie gestohlen.

Vor fünf Jahren ist die Frau von Sanjey Sharma gestorben, seitdem ist er mit seinen drei Kindern hier unter der Brücke untergekommen und verdingt sich als Teeverkäufer für die anderen Wohnungslosen: „Immerhin leben wir hier in einer Art Gemeinschaft mit 300 Leuten, also erwarte ich von den Leuten hier auch, dass wir kooperieren. Trotzdem habe ich manchmal Angst, vor allem um meine Tochter. Ihr soll nichts passieren.“

Ranjit Srivastava kann man einen Schlafverkäufer nennen. Er selbst bezeichnet sich aber lieber als eine Art Robin Hood für die Obdachlosen. Er springt – wie einige andere in der Stadt auch – dort ein, wo die Behörden versagen. Viele der Schläfer wohnen schon seit vielen Jahren unter der Eisenbahnbrücke. Und jeder kann eine eigene tragische Lebensgeschichte erzählen, meint Ranjit. Warum auch sonst sollten sie sich bei ihm unter der Brücke einfinden? Ein Happy End, wie im Bollywood-Film „Raja Hindustani“, ist hier für keinen zu erwarten.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „ARD-Nachrichten online“, ard.de

Schlagwörter: Indien, Obdachlose, Straßenkinder, Neu Delhi, Brücke, Schlafplatz, Bollywood, Miete, Bevölkerungswachstum, Stadtverwaltung, Armut, Arme, Wohnungslose, Drogen